Systemische Familienreorganisation

1. Rahmenbedingungen 

1.1. Rechtliche Grundlagen 

Die vorliegende Maßnahme ist als Maßnahme der Kinder- und Jugendhilfe im Sinne des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) zu verstehen und deckt insbesondere die Maßgaben der §§ 27 bis 31 sowie der §§ 35a bis 37 KJHG ab. 

1.2. Zielgruppe und Aufnahmekriterien 

Zielgruppe sind Familien, 

a) in denen mittelfristig oder unmittelbar die stationäre Unterbringung eines oder mehrerer Kinder in einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung erforderlich zu sein scheint, 

b) in denen bereits eine stationäre Unterbringung eines oder mehrerer Kinder erfolgt ist und zur Vorbereitung und Begleitung der erfolgversprechenden Rückführung des oder der Kinder eine intensive Betreuungsmaßnahme erforderlich ist. 

1.3. Ausschlusskriterien 

a) Familien, die im ausführlichen Vorgespräch keinen Zweifel daran lassen, dass sie zur Zusammenarbeit mit uns nicht bereit sind, werden nicht betreut. 

b) In der betreuten Familie muss die Wahrnehmung der Aufsichtspflicht durch die Erziehungsberechtigten oder von ihnen beauftragte Personen jederzeit möglich sein. 

1.4. Aufnahmeverfahren 

Nach dem Erstkontakt mit dem zuständigen Jugendamt, in dem die Familienproblematik auf Basis der Aktenlage erörtert wird, führt ein Pädagoge unserer Einrichtung in der Familie eine Diagnosewoche durch, in der in einem vorher vereinbarten Umfang das Familiensystem vor Ort analysiert wird. 

Nach Ablauf der Diagnosewoche findet ein Hilfeplangespräch unter Maßgabe der Vorschriften des § 36 KJHG statt, in dem die Entscheidung über den Abschluss eines Betreuungsvertrages gefällt wird. 

1.5. Dauer der Maßnahme 

Die Maßnahme ist auf einen Zeitraum von mindestens 15 bis höchstens 24 Monaten angelegt. 

Diese teilen sich auf in eine mindestens 9- und höchstens 15-monatige Intensivphase und eine mindestens 6- und höchstens 9-monatige Supervisionsphase. 

1.6. Betreuungsaufwand 

Jede Familie wird in der Intensivphase mindestens 15 und höchstens 19 Stunden wöchentlich von demselben Pädagogen vor Ort betreut. 

Darüber hinaus wird für die Kinder der betreuten Familien jährlich einmal eine zweiwöchige, von den die Familien betreuenden Pädagogen geleitete Ferienmaßnahme durchgeführt. ©Kinder- und Jugendhilfe e. V. Stand: September 2010 

1.7. Personal 

Die in der Familienbetreuung eingesetzten Mitarbeiter verfügen über die Qualifikation als 

a) Diplom-Sozialpädagoge(in), Diplom-Sozialarbeiter(in), 

b) Diplom-Pädagoge(in), 

c) Diplom-Psychologe(in), 

d) Diplom-Heilpädagoge(in), 

e) Erzieher mit einschlägiger Zusatzausbildung, 

f) im Einzelfall sonstige pädagogische Ausbildung mit besonderer Eignung für diese Aufgabe. 

Alle Familienbetreuer verfügen über umfangreiche Kenntnisse des Systemischen Ansatzes und heilpädagogischer Methodik. 

2. Pädagogisches Konzept 

2.1. Arbeitshypothesen 

Folgende Hypothesen liegen unserer pädagogischen Arbeit in gestörten Familien zugrunde: 

a) Störungen in Familien sind in erster Linie als Kommunikationsstörungen identifizierbar. 

b) Die einzelnen Personen sind nicht hinreichend in der Lage, ihre Bedürfnisse zu identifizieren und ihre Ziele zu formulieren. 

c) Die Organisationsstruktur der Familie ist nicht hinreichend geeignet, differenzielle Bedürfnisse in für die Individuen akzeptablem Maße zu befriedigen. 

d) Die Auffälligkeit(en) der Kinder sind demnach Symptome eines gestörten Familiensystems. 

Hieraus ergibt sich folgender Arbeitsansatz: 

2.2. Arbeitsansatz 

2.2.1. Tägliche Arbeit in der Familie (Intensivphase) 

1. Mit den erwachsenen Familienmitgliedern wird die Kommunikationsstruktur in der Familie analysiert. Ziel ist es hierbei, unter Zuhilfenahme von Videotechnik und Rollenspielen das Bewusstsein dafür zu wecken, dass Kommunikation steuerbar ist. 

Auf diese Weise soll die Grundlage geschaffen werden, sich die Wahrnehmung von Störungen zu erlauben. 

2. Mit den Familienmitgliedern wird sodann daran gearbeitet, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. 

Über die Formulierung der Bedürfnisse wird gemeinsam trainiert, Ziele zu formulieren, die diesen Bedürfnissen entsprechen. 

Über die Erarbeitung von differenziellen Strategien zur Zielverwirklichung und die Einrichtung von Zielkontrollmechanismen soll zielgerichtetes Handeln als Ressource in der Familie etabliert werden. Gleichsam werden diese Strategien und die Zielkontrolle in der Familie kommuniziert, wodurch der Kommunikationsrahmen erweitert und stabilisiert wird. 

3. Über die Formulierung von Bedürfnissen und Zielen bietet sich in der Familie die Möglichkeit zum Abgleich der unterschiedlichen Zielvorstellungen. 

Auf diese Weise kann die Alltagsorganisation der Familie zielgerichtet an die unterschiedlichen Bedürfnisse angepasst werden. ©Kinder- und Jugendhilfe e. V. Stand: September 2010 

Diese Anpassungsleistung wird von uns begleitet, jedoch von der Familie selbst vollzogen. 

Der erwünschte Effekt ist die Wahrnehmung eigener Handlungsfähigkeit. 

Dies ermöglicht es den Familienmitgliedern, Situationen als Teil eines Prozesses zu begreifen und sich vom alleinigen Erleben unverrückbarer Fakten abzulösen. 

Teil des hier beschriebenen Prozessablaufes der Reorganisation der Familie ist die Einbeziehung der Kinder als kleine Persönlichkeiten, die in gleicher Weise wie die erwachsenen Familienmitglieder die Befriedigung ihrer Bedürfnisse in der Familie suchen. 

Dies wird in der Alltagsgestaltung durchgängig zu berücksichtigen sein, wobei die Begleitung der Kinder in diesem Prozess Sequenzen heilpädagogischer Einzelbetreuung einschließt. 

4. In der Folge dieses Prozesses werden die betroffenen Kinder ihre ursprünglichen Symptome ablegen, weil sie 

a) die Erfahrung machen werden, in der Familie ernst genommen zu werden, und 

b) über ihr Lernverhalten die verbesserten Kommunikationsmuster der Erwachsenen übernehmen werden. 

Sie sind folglich nicht mehr genötigt, im Alltag durch eine oft radikale Weise, ihre Bedürfnisse zu kommunizieren, Aufmerksamkeit zu erzeugen. 

2.2.2. Geleitete Ferienmaßnahmen 

Der vorangehend beschriebene Prozess wird durch die Teilnahme der Kinder an von den Familienbetreuern geleiteten Ferienmaßnahmen vertieft. 

Jedes Kind nimmt während der Dauer der Familienbetreuung pro Jahr an einer dieser Ferienfreizeiten teil, wodurch es die Möglichkeit erhält, die neu erworbenen Kommunikationsmuster in einer Ausnahmesituation unter seinesgleichen zu erproben. 

Diese Ferienmaßnahmen sind geprägt durch Lern- und Dialogprozesse in der Gruppe, die mittels erlebnispädagogischer Inhalte und “common tasks” den Charakter eines intensiven sozialen Trainings erhalten. ©Kinder- und Jugendhilfe e. V. Stand: September 2010 

2.2.3. Familiensupervision (Supervisionsphase) 

Durch den innerhalb der vereinbarten Betreuungszeit vollzogenen Rückzug des Familienbetreuers aus der täglichen Betreuung wird der Familie das Vertrauen des Fachmannes/der Fachfrau in die neu erworbenen Strukturen signalisiert. 

In der an die Intensivphase anschließenden Familiensupervision wird mit dem Familienbetreuer zunächst einmal wöchentlich, später einmal monatlich die jeweils aktuelle Familiensituation reflektiert. 

Ziel ist es, 

a) durch Verlängerung der Beobachtungsabstände der Familie schrittweise ihre Eigenständigkeit mit erweiterten Ressourcen zurückzugeben, ohne ihr die durch die Aufmerksamkeit des Betreuers vermittelte Sicherheit zu nehmen. 

b) durch intensives Reflektieren des Fortschreitens des Familienprozesses neue Erfahrungen in die erworbenen Verhaltens- und Kommunikationsmuster einzubauen. 

3. Arbeitsreflexion 

3.1. Supervision der Familienbetreuer 

Für die Familienbetreuer ist wöchentliche Supervision im Team verbindlich. 

Zusätzlich wird bei Bedarf Einzelsupervision durch einen externen Supervisor angeboten. 

3.2. Wissenschaftliche Begleitung 

Wir verstehen die o. b. Maßnahme als Pilotprojekt einer umfassenden Familienhilfe. 

Die Erfahrungen mit der integrierten Methodik werden dokumentiert und nach Ablauf von fünf Jahren im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit ausgewertet und veröffentlicht.